Haben die Götter keinen Geschmack?

Ein Liebling der Götter kann er nicht gewesen sein, denn wer einer ist, stirbt recht jung, Niemeyer jedoch wurde 104, und da im Bundesstaat Rio de Janeiro, wo er den größten Teil seines Lebens verbrachte, wegen seines Dahinscheidens drei Tage lang getrauert wird, zeigt, dass man nicht unbedingt früh sterben muss, um geliebt zu werden. Jedenfalls nicht bei den Menschen Haben die Götter bei ihm etwa eine Ausnahme gemacht? Ich glaube eher nicht. Vermutlich haben sie sein Talent gar nicht erkannt, darum hat er es auch nicht bis in ihre Herzen geschafft. Das war einfach zu neu für sie. Von Musik scheinen sie ja etwas zu verstehen (Mozart wäre sonst viel älter geworden, zudem existierte nicht der „27 Club“), ihr Architektur-Geschmack lässt jedoch vermuten, dass sie hinter dem Mond leben müssen. Mich würde nicht wundern, wenn es bei ihnen noch so wie zu Odysseus Zeiten aussehen sollte (ich hoffe, sie nehmen mir das nicht übel – deren Rache ist nämlich furchtbar).

Vielleicht ist es ganz gut, erst spät, im Vergleich zu Musikern und Schauspielern biblischen Alter, berühmt zu werden. Er war immerhin schon 51, als ihn der Bau Brasilias, der Stadt aus der Retorte, deren Gebäude sein Büro entwarf, in die Schlagzeilen brachte. Die Götter sind dann nachsichtiger (trotzdem hatte er einen Autounfall, der ihm fast das Leben kostete), Zu schade, dass er in Deutschland, wenn ich richtig recherchiert habe, nur ein Haus gebaut hat (1957), was angesichts seines ungeheuren Arbeitspensums – selbst noch in diesem Jahr, 2012, wurde ein Gebäude, das er entworfen hat, fertiggestellt – den Verdacht erweckt, den Deutschen muss er ebenfalls zu modern gewesen sein.

Ich schätze, das wäre ganz anders verlaufen, hätte er sich dazu entschlossen, die Fläche unterhalb des Gebäudes – das Haus steht auf schrägen Pfeilern – für Parkplätze zu nutzen. Statt der Autos kann man dort nur Fahrräder parken, was heute Menschen, die in Mehrfamilienhäusern leben, als riesengroßen Fortschritt betrachten, müssen diese doch immer noch in den Keller gebuckelt werden. Der Drahtesel war in den 50ern jedoch mega-out. Damals, wie der Film „Der letzte Fußgänger“ (mit Heinz Erhardt), der 1960 in die Kinos kam, zeigt, wollte jeder nur Auto fahren. Wo eine Grünfläche sein könnte, stehen – wie überall in Sichtweite der Besitzer – PKW. Sicherlich wäre alles anders gekommen, wenn es mehr Vespa-Besitzer gegeben hätte – mindestens 2 pro Familie hätten es aber schon sein müssen, andernfalls hätte sich ein Einzug nicht gelohnt. Das zeigt auch, wie wenig Berlin und Rom gemeinsam haben.

Wen es kalt lässt, wie die Erdgeschosswohnungen eingerichtet sind, wird diese nicht vermissen. Leute, die unten wohnen, können sich dank der Pfähle mit dem Fensterputzen Zeit lassen. Zudem fällt es nicht auf, wenn die Gardinen mal dunkler als sonst sind. Pfahlbauten machen das Leben also wesentlich bequemer. Da aber damals von den Frauen verlangt wurde, mindestens einmal im Monat das Fenster zu putzen und die Gardinen zweimal im Jahr zu waschen, konnte Niemeyers Baustil keinen Anklang finden. Warum putzen, wenn die Nachbarn nicht merken, dass die Fenster dreckig sind? Der Ehemann sieht den Schmutz eh nicht (Männer sind von Geburt an schmutz-blind).

Wie wenig Niemeyers Brasilia, das schon seit 1987 Weltkulturerbe ist, jene, die am Regierungsumzug von Bonn nach Berlin beteiligt waren, beeinflusst hat, zeigen die Bauten, in denen die Vertreter der Exekutive und Legislative arbeiten. An erster Stelle steht natürlich das Bundeskanzleramt. Machtbewusster geht es wirklich nicht. Dagegen ist Niemeyers Präsidentenpalast zierlich, nichtsdestoweniger erweckt es den Eindruck, dass in dessen Inneren Innovatives entstehen könnte – ein idealer Platz für Start-up-Unternehmen. Selbst zu Riesen wie Apple oder Google würde dieser Komplex passen. Die Nutzung würde den Menschen suggerieren, dass beide gar nicht so mächtig, wie es scheint, sind. Eine feine Art des Understatements.

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