Der Zahlenfreak

Thilo Sarrazin hat etwas geschafft, wovon alle, die je einen Film gedreht, einen Roman geschrieben, eine LP produziert oder ein Bild gemalt haben, nur träumen können – über sein Werk wird bereits diskutiert, bevor Leute, die in der Lage sind (da es in seinem neuesten Buch um den Sinn des Euros geht, müssten Ökonomen dies tun), die Daten, mit denen er glaubt, die Gemeinschaftswährung in Frage stellen zu können, gecheckt haben. Diesen Kultstatus, um den in jeder, der etwas Geistiges (Kreatives) produziert, beneidet, hat er bereits mit seinem 2. Buch erreicht – während gestandene Regisseure zur Zeit in Cannes ihre neuesten Stücke von der Avantgarde der Filmkritiker beurteilen lassen – diskutiert Sarrazin über sein Buch im deutschen Fernsehen mit drei vom Schicksal auserwählten. Gestern durften Jauch und Steinbrück ihn befragen, heute Abend hat Voss (3sat) die Ehre, ihn zu interviewen. Eine schriftliche Einschätzung (so etwas wie eine Buchrezension) existiert noch nicht. Ohne die macht eine Diskussion aber keinen Sinn. Richtig überzeugen konnte mich Steinbrück nicht – er hat es nicht geschafft, Sarrazin auf seinem Spezialgebiet, den Zahlen und Kennziffern, zu schlagen. Da er sich in der Sendung lobend über die Arbeit der Kommission, nach deren Plänen die D-Mark in den neuen Bundesländern eingeführt wurde (spielte dort eine bedeutende Rolle), äußerte, ist zu vermuten, dass er weiterhin glaubt, Zahlen würden die Realität richtig abbilden. Aufgrund dieser Denkweise mussten die Wohnungsgesellschaften alle Kredite, die sie in der DDR aufgenommen hatten, später im „Westen“ weiter abzahlen (statt höhere Löhne zu zahlen hat man die Mieten „künstlich“ niedrig gehalten). Die Kreditmitnahme sowie ein Gesetz, das bei Abriss des Gebäudes die Gesellschaft schuldenfrei stellt, haben mit dazu geführt, dass Halle zwei Wahrzeichen – die Zwillingshochhäuser am Riebeckplatz – sprichwörtlich abhanden gekommen sind. Ende August werden die Arbeiten am Südturm beendet sein. Zu allem Überfluss hat man die Straßenbahn sowie Fußgänger unter die Straße gelegt, was den Platz nicht unbedingt lebendiger macht. Für fremde Autofahrer muss es ein komisches Gefühl sein, mitten im Stadtzentrum auf einmal nur noch Gleichgesinnte anzutreffen. Aber ganz so schlimm wie auf der „Spaghetti Junction“ ist es noch nicht. Und Halle hat Glück, zwei Brücken zu haben. Gäbe es sie nicht, wäre das Rondell in der Mitte ein idealer Landeplatz für Ufos. Die kanadische Regierung hat ja ihre Bürger gerade vor Zombies gewarnt. Dank der Überführungen bleiben uns derartige Warnungen erspart. Sollten Aliens den Platz schon ausgemacht haben, dürften sie sich wahnsinnig darüber geärgert haben, dort nicht landen zu können. Denn die Stelle lässt sich auch prima verteidigen – absolut cruise-missile-sicher.

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