Vieles ist verblasst

Mehr als 3 Jahre ist es her, als ich schrieb, „“Gunter is banging his little tin drum“, und es sieht so aus, als ob er nicht so schnell damit aufhören würde“ – wie so oft bei Leuten, von denen man denkt, sie würden ewig Leben, bin ich völlig überrascht, nach einem Tag, an dem mich Ereignisse, die im Rundfunk und im Internet gemeldet und kommentiert werden, nicht erreicht haben, abends zu lesen, Grass sei verstorben. 12:38 Uhr veröffentlichte Spiegelonline die Meldung sicherlich ganz oben. Als ich gegen halb neun dort landete, war der erste Artikel über ihn zwei Stufen nach unten gerückt. Gegen halb elf hat der Autor es auf Platz 2 geschafft. Nicht einmal ein Nobelpreisträger kann es mit Piech und Co aufnehmen. Bei den anderen Zeitungen sieht es nicht besser aus. Die FAZ hält sogar Wilders Auftritt in Dresden für wichtiger. (Gut, dass Reich-Ranicki das nicht mehr erleben muss.) Nur die SZ hält treu zu ihm. Dabei haben sie doch alle gut von ihm gelebt. Selbst mit einem Gedicht (wer liest heute schon Lyrik?) sorgte er für Schlagzeilen. Mit Grass lies und lässt sich Quote machen. Umso unverständlicher finde ich es, ihn in die zweite Reihe zu setzen. Wer von Grass nicht viel bzw. nur ein Werk vollständig gelesen hat (das ist ausgerechnet dessen Gedicht über Israel), dem bleibt nichts anderes übrig, als darüber zu schimpfen, dass ihn die Presse ziemlich stiefmütterlich behandelt. Ich bilde mir ein, die Blechtrommel bis zum Ende gelesen zu haben. Lange ist es her. Als ich den Nachruf im Guardian las, habe ich gemerkt, wie weit Grass entrückt ist – nichts ist gegenwärtig, alles liegt weit zurück, was nicht an der Zeit liegt, sondern an seinem Wirken, das sich doch nicht in dem Umfang, wie ich dachte, bei mir eingeprägt hat. Obwohl die Artikel des Spiegel, auf dessen Ausgabe Reich-Ranicki ein Buch zerreißt, gelesen habe, kann ich mich nur dunkel daran erinnern, um was es damals gegangen ist. Grass in seiner berühmten Jacke ist immer allgegenwärtig. Mich daran zu erinnern, welche Positionen er einmal eingenommen hat, fällt mir ziemlich schwer.

PS: Die Briten haben wieder einmal bewiesen, dass sie absolute Nachruf-Spezialisten sind. Wer Wert darauf legt, nach dem Ableben der Nachwelt – bei den meisten sind es eh nur die Verwandten und Freude – in guter Erinnerung zu bleiben, sollten jemanden von der Insel mit dem Schreiben des Nachrufs beauftragen.

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