Nie war Europa toleranter (würden unsere Politiker sagen)

Aufklärung oder Barbarei, das ist seit Sonntag die große Frage – die Befürworter erstgenannter These werden im Sieg Conchita Wursts (für jene, die sich nicht im klaren sind, welches Personalpronomen sie anstelle des wahrlich nicht erbaulichen Namens gebrauchen sollen, der Hinweis, unbedingt „sie“ zu gebrauchen) einen Triumph Europas sehe – der Kontinent hat seinen Ruf, der tolerantester von allen zu sein, grandios bestätigt. (Für die glücklichen Unwissenden: sie hat die Eurovision gewonnen. Wer glaubt, ich würde über sie schreiben, weil ich keinem gönne, sie nicht zu kennen, liegt nicht ganz falsch.) Nur in der Antarktis, wo noch nie jemand umgebracht wurde, sind die Menschen friedfertiger. Da dort höchstens einige hundert Leute leben, kann Europa wirklich stolz sein. Da wir bald Leute in Positionen wählen, in denen man von ihnen verlangt, u. a. zu entscheiden, ob Kaffee länger als 40 Minuten warm gehalten werden darf (keine Sorge, gestern wurde bei Plasberg verkündet, das Parlament würde den Vorschlag der EU-Kommission ablehnen), sollte sich angesichts des Ergebnisses in Kopenhagen niemand wundern, wenn in den nächsten Tagen ein Kandidat die Bemerkung fallen ließe, dass kein Teil eines anderen Planeten, auf dem Kreaturen lebten, die den Menschen ähneln würden, uns übertreffen könne. Niemand würde diese Aussage bezweifeln, wenn Conchita singen könnte. Leider ist das Singen ihre Sache nicht, was zur Vermutung Anlass gibt, sie haben wegen ihres Aussehens und ihres Geschlechts gewonnen, somit eine Kultur, von der der Bildungsbürger gedacht hat, sie sei längst überwunden, zurückgekehrt ist – die Zurschaustellung von Personen wegen deren Aussehens scheint wieder en vogue zu sein. Früher wurden sie auf Jahrmärkten vorgeführt. Heute treten sie im Fernsehen auf. Wenigstens geht es heute kultivierter zu.

Die großen Verlierer des Abends waren die Russen – zum einen sollen Tolmatschowa-Schwestern ausgebuht worden sein, zum anderen ließ die Presse es nicht nehmen, zu berichten, dass sich russische Politiker abfällig (hätten wir noch Wien, würde es Conchita nicht geben) über die Siegerin äußerten. Da ein allseits bekannter rechter Querulant (von dem stammt das sinngemäße Zitat) darunter war, hat die Meldung keinen großen Erkenntnisgewinn gehabt (sein Schweigen hätte wildeste Spekulationen ausgelöst). Es war nur ein weiterer Beitrag, die Russen ins ins schlechte Licht zu rücken. Wie weit den Politiker deren Unverzagtheit lästig geworden ist, lässt sich daran ermessen, dass keiner der westlichen Politiker sich die Mühe macht, jenen, die im Donbass und in Lugansk am Sonntag für mehr Autonomie gestimmt haben, vernünftig zu erklären, warum das aus ihrer Sicht nicht möglich ist. Die Einschätzung Steinmeiers, „wer die Bilder heute Nacht samt der angeblichen Ergebnisse gesehen hat, der weiß, dass das nicht ernst genommen werden kann nicht ernst genommen werden darf – jedenfalls nicht von uns,“ wirft die Frage auf, ob jemand ihn überhaupt berät. Tausenden Menschen vor den Kopf zu knallen, ihr Votum könne nicht ernst genommen werden, ist psychologisch höchst unklug – sie müssen sich in ihrer Meinung bestärkt fühlen. Ein Psychologe hätte ihm sicherlich abgeraten, derart harsch das Verhalten der Leute im Osten abzulehnen. Es geht viel geschickter – indem man auf die Nöte der Menschen eingeht sowie Verständnis für deren Verhalten zeigt. Danach erst kann man ein Ergebnis, natürlich gut begründet, ablehnen. Da der Westen nicht um die Menschen, die gegen Kiew sind, wirbt, drängt sich der Eindruck auf, dass in den höheren Amtsstuben Europas alle froh sind, wenn der Osten sich abspalten würde. Nur will das keiner zugeben. Womöglich liefern die Politiker schon heute ein weiteres Indiz für diese These. Dafür müssen sie nicht einmal etwas tun. Ganz im Gegenteil, unter keinen Umständen dürfen sie sich darüber aufregen, dass Kiew keine Separatisten zum runden Tisch geladen hat.

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