Keine gute Wahl mit den Wörtern

Ich bin verwirrt. Vielleicht liegt es am milden Wetter. Oder es ist zu spät zum Schreiben. Während der Spiegel und die FAZ mir genau sagen können, wann Goebbels das Wort „Lügenpresse“ benutzte (die Hamburger schreiben, während einer Veranstaltung im Jahr 1932, die Frankfurter meinen, in seinen Tagebüchern ließe sich diese unschöne Bezeichnung zweimal finden), macht mich ausgerechnet eine Publikation der Gesellschaft für deutsche Sprache, von denen ich nie erwartet hätte, dass einer deren Vertreter in der Lage sein könnte, sich unkonkret und unpräzise auszudrücken, ziemlich ratlos – wie kann um 1940 dieses Wort eine Renaissance erleben, wenn in dieser Zeit nur regimetreue Zeitungen existierten? Waren die Naziblätter den Deutschen nicht nazistisch genug? Sind ausländische Zeitungen, die es damals sicherlich nicht am Bahnhof zu kaufen gab (nur der Führer durfte Disney-Filme gucken), gemeint? Oder haben gar Leute, die gegen die Nazis waren, gegen die Erfolgsmeldungen, die sich damals fast stündlich änderten, gewettert? Da lt. Gfds immer völkische und nationalistische Anliegen dahinter geständen hätten, ist diese Vermutung wohl auszuschließen. Da auch mit den Beweisen, die oben erwähnte Zeitungen liefern, sich der Eindruck aufdrängt, dass die „Lügenpresse“ nicht zu den Schlagwörtern, die den Menschen täglich um die Ohren gehauen worden, gehört hat, stellt sich schon die Frage, ob es nicht ein passenderes Unwort für das Jahr 2014 gegeben hätte. Putinversteher hätte gut gepasst. Das Wort war fast das gesamte Jahr in aller Munde. Die Lügenpresse ist erst seit einem Monat en vogue. Zudem hat sich dessen Gebrauch auf nur einen kleinen Teil Deutschlands beschränkt, Putinversteher kann man jedoch überall im Land treffen. Oft halten sie sich in Foren auf. Angesichts dessen Regionalcharakters kommt der Verdacht auf, dass die Leute, die ein Wort zum Unwort erklären, sich wegen dessen Gebrauchs beleidigt gefühlt haben. Vermutlich sind sie das jetzt noch. Aber es ist nicht mehr so schlimm wie noch vor einer Woche. Ein Gegenschlag, auch wenn er noch so peinlich ist, sorgt immer für Genugtuung. Und genau das ist die Wahl. Wer Wutbürger, ein Kampfbegriff, den sich ein Journalist ausgedacht hat, statt zum Unwort zum Wort des Jahres erklärt, hätte gut daran getan, die sächsisch Kanonade über sich ergehen zu lassen. Wer sich nicht daran stößt, dass Protestierende zu Leuten, die nicht mehr Herr ihrer selbst sind, degradiert werden, muss sich ebenfalls beleidigen lassen. Wenigstens ein einziges Mal. Zum Wort des Jahres ist übrigens „Lichtergrenze“ gewählt worden. (Wer sich partout nicht mehr erinnern kann – die gab es anlässlich des Jubiläums zum Fall der Mauer in Berlin. Ich bedaure heute noch, dass die Ballons nicht zur gleichen Zeit hochgingen.) Da meiner Rechtschreibhilfe dieses Wort unbekannt ist und der Duden es unter ferner liefen führt, sind die Aussichten, dass mir die Lichtergrenze auf die Nerven gehen könnte, äußerst gering. Die beste Wahl ist eben immer jene, von der niemand spricht, da sie meistens die Angewohnheit haben, Diskussionen zu erschweren. Diese sogar oft unmöglich machen. Bei dieser Wahl kann ich nur sagen – macht weiter so!

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