„Die Einstellung“, „Wutbürger“ und Bockmist

Nachdem sich der Ärger, den mir Figaro, der beim MDR für die Kultur zuständig ist, mit seiner Politik, ausgestrahlte Sendungen bzw. Beiträge nicht auf der Webseite zum Hören bereitzustellen, bereitete, gelegt hat – Kurt Tucholskys Text „Die Einstellung“, vorgetragen von Gert Heidenreich, hätte ich gern mit einem Hörlink unterlegt – ist nun, dank eben der gestern in der Figarothek ausgestrahlten Lesung, mein heiteres Erstaunen darüber, dass früher schon bestimmte Wörter so oft verwendet wurden, dass einige Menschen ihrer schnell überdrüssig wurden, wieder zurückgekehrt. Früher heißt 1924, als K.T. den Artikel unter dem Pseudonym Ignaz Wrobel in der Weltbühne veröffentlicht hat (siehe textlog). Im Allgemeinen geht es im Artikel um Modewörter, die so oft gebraucht werden, dass es selbst einem Eremiten unmöglich ist, diesen zu entkommen, im Speziellen um eines, das er, um sich Schreibarbeit zu ersparen, zu einem solchen erklärt hat – warum eindeutig schreiben, wenn der Beitrag doppeldeutig prägnanter wird? Für meine zum Ausdruck gebrachte Verwunderung, die eine gewisse Unkenntnis der damaligen Verhältnisse erkennen lässt, scheint mir in erster Linie das Fernsehen verantwortlich zu sein – aus der wenig später beginnenden Tonfilmära zeigt es vermutlich nur jene Streifen, die über die witzigsten und geistreichsten Dialoge verfügen. Da diese die meisten heutigen Spielfilmen in puncto Esprit und Humor in den Schatten stellen (amerikanische Serien halten nur noch mit), ist mein Eindruck, dass es damals nur Sprachgenies gegeben haben muss, durchaus nachvollziehbar. Und heißt es nicht immer, die zwanziger Jahren wären die Blütezeit der deutschen Kultur (bsp. bekam Jannings den Oskar) gewesen? Es tröstet mich ein wenig, dass ich nicht der einzige bin, der Tucholskys Text nicht kannte. Selbst Top-Journalisten müssen nichts über den Artikel gewusst haben, denn wären sie über ihn informiert gewesen, hätten sie darauf verzichtet, Wörter zu erfinden, die erst Modewörtern werden, dann aber zu Wörtern, mit deren Gebrauch jede weitere Argumentation unmöglich bzw. totgeschlagen wird, mutieren. Sie merken, ich habe mir Tucholskys Warnung zu eigen gemacht – meine Eigenkreation („Totschlagswort“), die ich hätte verwenden können, kommt mir nicht auf den Bildschirm. Ein Wort, das jede Diskussion bei dessen Nennung erstickt, lautet „Gutmensch“. Wegen des Mangels an Konkurrenz hat es jahrelang unangefochten als das penetranteste Modewort gegolten. Niemand konnte sich vorstellen, dass es einmal in Gefahr geraten könnte, von einem anderen Wort abgelöst zu werden. Nun ist es aber soweit. Ein neues Wort schickt sich an, es zu verdrängen. Erfunden wurde es vor zwei Jahren. Es heißt „ Wutbürger“. Als solcher wird jeder tituliert, der öffentlich bekundet, gegen irgendetwas zu sein. Leider gehört es auch noch zu den Modewörtern, dessen Verwendung bei einer Zunahme der Protestler überproportional steigt. Mir fällt da nur ein Wort ein – Bockmist. Womit ich gleich beim nächsten Problem wäre. Warum gebraucht mein Lieblingsmodewort heute kaum noch jemand?

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