Lieber tanzen statt sitzen

Je schlimmer die Lage, desto ausgelassener die Feiern, was dazu führen kann, dass jemand, nur weil der die Stimmung der Menschen gut zu vermitteln weiß, für etwas, was er ausnahmsweise mal nicht hinbekommt, umjubelt wird. Das Glückskind heißt Gustav Gründgens – er kann weder singen (nicht mal einen Ton halten), noch tanzen (steifer geht es wirklich nicht mehr). Dass ich dennoch das Lied „Die Nacht ist nicht zum Schlafen da“ gerne höre, liegt daran, dass er alle Energie, die er aufbringen kann, in die Waagschale wirft. Dieser Verve überdeckt seine helle Stimme, die außerdem noch zu hoch ist. Der Erfolg wäre noch überwältige geworden, hätte Gründgens auf „Bässe“ zurückgreifen können. Oder er sich ein bisschen geschmeidiger bewegt hätte. Hollywood wäre begeistert gewesen. So hat es „nur“ für Deutschland gereicht. Der Ausschnitt stammt aus dem Film „Tanz auf dem Vulkan“. An dessen Ende lösen seine Gesangskünste eine Revolution aus. (Zu schreiben, er würde den König dazu zwingen, abzudanken, habe ich als zu nüchtern empfunden.)

Wer heute Nachrichten sieht und Webseiten unterschiedlicher Couleur, also auch jene des Feindes, besucht, wird feststellen, dass wir ebenfalls auf einem Vulkan tanzen, dies aber nur eine Nacht lang. Den Rest des Jahres dürfen wir auf ihm sitzen, was nicht unbedingt verkehrt sein muss, wenn uns diese ungesunde Haltung (meine Knochendichte müsste die eines Neandertalers weit übertreffen) ermöglichen würde, Sinne, die uns sagen, was sich in ihm abspielt, zu entwickeln. Leider tut sich in dieser Hinsicht nicht viel. Wenigstens brauchen wir wegen unserer Ignoranz niemanden, der uns mitreißt. Das ist das Jahr, in dem wir uns an Hiobsbotschaften gewöhnt haben. Nichts kann uns mehr abschrecken. Voriges Jahr, als die Welt weitaus besser in Schuss war, wurde wild darüber spekuliert, ob ein Fluch über dem 14ten Jahr eines Jahrhunderts liegen würde. Das scheint der Fall zu sein. Alleine schon heutige Hiobsbotschaften wie jene über ein angebliches Leck in einem ukrainischen Kernkraftwerk sowie über ein Frachtschiff, das mit 400-600 Flüchtlingen, die bewaffnete Schlepper in Schach hielten (in der Tagesschau), in der Adria unterwegs sei, sprechen für die Einschätzung. Ein moldauischer Frachter mit Flüchtlingen an Board? Das wäre vor einem Jahr völlig unvorstellbar gewesen. Der guten Stimmung tut das keinen Abbruch. Fast hat es den Anschein, als wären alle froh darüber, dass dieses Jahr nicht noch schlimmer verlaufen ist. Es hätte ja auch einen Weltkrieg geben können. Aus dieser Perspektive kann sich die Lage nur verbessern. Muss sie aber nicht.

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