Die Thomaner und die Titanic

Was haben der Thomanerchor und die Titanic gemeinsam? Neben dem großen „T“ fallen die zwei Ereignisse, die alle 100 Jahre beiden viel Aufmerksamkeit bescheren, ins 12. Jahr, was angesichts der rapide steigenden Lebenserwartung heutigen 3- oder 4-jährigen die Chance bietet, den Feierlichkeiten im nächsten Jahrhundert bei voller geistiger Frische beiwohnen zu dürfen. Da nichts dafür spricht, dass sich irgendwann einmal unsere Gewohnheit, alles, was uns wichtig erscheint, in Bildern festzuhalten, ändern könnte, würde es natürlich einen großen Eindruck machen, beim 105. Geburtstag die Lieben mit einem Video, in dem man als 5-jähriger ehrfurchtsvoll und ergriffen den Thomanern zuhört, zu überraschen, Eltern und Großeltern darum gut daran täten, zum nächsten Konzert in diesem Jahr Kinder und Enkel mitzunehmen. Natürlich sollten sie das Filmen nicht vergessen, zumal es nach meinem Kenntnisstand nahezu möglich sein wird, 2112 an Aufnahmen, die anlässlich des 800-jährigen Bestehens des Chor gemacht wurden, zu kommen – der MDR hat nämlich das Kunststück fertiggebracht, vom Festakt, der letzten Dienstag stattfand, nicht live zu berichten. Das wäre nicht weiter erstaunlich, würde der Sender nicht jedes Jahr stundenlang vom Karnevalsumzug in Wasungen berichten. Noch erstaunlicher (und bestürzender) ist, dass keiner der Lokalgrößen der hiesigen Medien bisher die Entscheidung des MDRs, nicht einmal am Abend eine Aufzeichnung der Feier auszustrahlen, kritisiert hat. Vermutlich wäre die Berichterstattung über den Festakt noch spärlicher ausgefallen, wenn unser neuer Bundespräsident in der Thomaskirche nicht seinen ersten Termin gehabt hätte. Alle wollten ihn und er wollte alle, die gekommen waren, sehen, wobei er keinen Unterschied zwischen jenen, die eingeladen waren, und jenen, die draußen bleiben mussten, zu machen schien. Ich weiß nun, dass Gauck das Bad in der Menge liebt. Wer ihn weiter nicht mögen möchte, sollte sich so schnell wie möglich verdrücken, denn hat er einen erst einmal im Visier, ist es schier unmöglich, ihm und seinem Charme zu entkommen. Wenn in „Tootsie“ Leute, die an der Produktion einer Soap beteiligt sind, einen älteren Mann (Chefarzt in der Serie), der die Frauen abzuküssen pflegt, „Zunge“ nennen, hieße der Körperteil, mit dem sich Gaucks Verhalten treffend umschreiben ließe, „Hand“. Hände schüttelt er mit großer Begeisterung, und das recht ausgiebig. Die Deutschen haben nun endlich ihren Ronald Reagan. Dieser ist zudem noch wesentlich volkstümlicher als das Original. Dass die Gauck-Mania selbst vor Menschen, die als besonders klug gelten, nicht haltmacht, hat Denis Scheck, der bei der ARD dafür zuständig ist, Bücher zu rezensieren, bewiesen. Oder war es der Respekt vor dem Amt, der ihn davor zurückschrecken ließ, Gaucks Buch „Freiheit“ in die gefürchtete Kiste, in der sich die Bücher wiederfinden, von denen er meint, sie gehörten zum Altpapier, rutschen zu lassen? Aber lesen Sie selbst:

„Eine Sonntagspredigt des frisch gekürten Bundespräsidenten, mit allen satztechnischen Mitteln auf Buchlänge aufgebläht und für 10 Euro nicht gerade eine Fastenspeise. Aber wenn der Mann sich dadurch mit legalen Mitteln etwas Geld verdienen kann, will ich nicht daran herumkritteln. Kleinkariert auch der Einwand, dass Gauck in diesem Text tatsächlich so peinliche patriarchalische Formulierungen unterlaufen wie die, seine Tochter habe ihm „mein neuntes Enkelkind geschenkt“. Solche Einwände verblassen angesichts des in Gaucks Rede mit ansteckender Begeisterung vollzogenen Dreisprungs von Freiheit über Verantwortung zu Bezogenheit. Alles in allem ein mitreißender optimistischer Text, Gesellschaft zu gestalten.
(Kösel Verlag, 64 Seiten, 10 €)
Dieser Text informiert über den Fernsehbeitrag vom 25.03.2012.“

Widersprüchlicher geht es wirklich nimmer – was gibt es Schlimmeres, als über ein Buch zu sagen, der Autor habe den Text „aufgebläht“? Trotz der Überlänge soll das Lesen Spaß machen, ja gar Begeisterung auslösen. Das nehme ich ihm nicht ab. Der überteuerter Preis kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich um eine „Fastenspeise“ handelt, darum auch der Verdacht, hier werde protestantischer Ablass betrieben, nicht so einfach als Hirngespinst abgetan werden kann. Da haben es die Titanic-Jünger schon wesentlich leichter. Sie wissen, dass ihr Hobby sie viel Geld kostet. Ab dieser Woche haben sie ein neues Ziel – in Belfast wird eine Dauerstellung über das legendäre Schiffs eröffnet. Alle Zeitungen berichten darüber. Als Kind wollte ich Kapitän werden. Viele Schifffahrtsbücher habe ich gelesen. Wenn ich zurückblicke, fällt mir auf, dass mich das Schicksal der Titanic nie sonderlich gefesselt hat, mir es darum auch recht schwerfällt, zu verstehen, warum dieses Schiff einfach nicht tot zu kriegen ist, denn alles ist über ihren Untergang gesagt worden, und das zig mal. Eigentlich müssten die meisten der Sache überdrüssig sein. Pustekuchen – 100 Jahre nach dem Auslaufen aus Belfast öffnet an der Stelle, wo das Schiff gebaut wurde, diesen Sonnabend ein Titanic-Guggenheim-Disney-Komplex seine Pforten. Von diesem verspricht man sich Wunderdinge verspricht (halte die nicht für ausgeschlossen). Ich wette, dass wir den Film auch bald wieder zu sehen bekommen. Schließlich jährt sich deren Untergang am 15. April.

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